Das Wahlprogramm der Lebendigen Gemeinde steht unter der Überschrift „Wir lieben Gemeinde“. Spontan frage ich mich: „Nur Gemeinde? Was ist mit den Menschen, die sich nicht zur Gemeinde zählen? Was ist mit Gott? Und welche Gemeinde ist eigentlich gemeint? Nur die Gottesdienst-Gemeinde am Sonntagmorgen? Oder auch die Fernseh-Gottesdienst-Gemeinde? Die Heilig-Abend-Gemeinde? Die Akademie-Gemeinde in Bad Boll?“ …
Bei der Lektüre finde ich schon bald eine mögliche Antwort auf diese Frage. Da heißt es: „Kirche ist, wo Gemeinde lebt“ (S. 5). Es geht also um die lebendige Gemeinde. Das ist ja der Name des Gesprächskreises! Ist der Titel dann so zu verstehen: „Wir lieben die Lebendige Gemeinde“, also uns selbst?
Selbstliebe ist ja kein Fehler. Aber wenn man mit der Liebe einsteigt, orientiert man sich vielleicht besser am Doppelgebot Jesu, und damit auch an der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Jedenfalls wirkt diese Überschrift auf mich sehr eng.
Dieser erste Eindruck bestätigt sich bei der weiteren Lektüre. Mit 44 Seiten auf DIN A 4 ist der Umfang der Veröffentlichung der Lebendigen Gemeinde zur Kirchenwahl beachtlich. Die einzelnen Beiträge erwecken allerdings nicht den Eindruck, dass es hier um ein Wahlprogramm zur Information aller Wahlberechtigten geht. Vielmehr soll wohl die eigene Wählerschaft abgeholt und auf kommende Veränderungsprozesse vorbereitet werden. In ihren Köpfen sollen „Barrieren abgebaut werden“ (S. 29). Wer sonst ist gemeint, wenn gefordert wird: „Weniger Rechthaberei, mehr Heiliger Geist. Weniger Beschäftigung mit sich selbst, mehr missionarische Aufbrüche“ (S. 37) und „Trauen wir uns doch und wachsen über uns hinaus!“ (S. 23)
Was der Zeitschrift der Lebendigen Gemeinde zur Kirchenwahl insgesamt fehlt, ist eine klare Struktur. Schon gleich am Anfang der Broschüre werden zwar neun zentrale Punkte für den Gesprächskreis Lebendige Gemeinde benannt. Die Zusammenfassung am Ende des Heftes besteht dann jedoch aus elf Punkten und nur fünf sind deckungsgleich. Was nun? Was gilt? Alles? Und das doppelt benannte besonders?
Positiv fällt auf, dass die Lebendige Gemeinde eine Hoffnung für die Kirche hat und sich neuen Formen von Kirche aufgeschlossen zeigt. Allerdings bleibt offen, was sie unter Kirche versteht. Der Satz, „Kirche ist, wo Gemeinde lebt“ (S. 5), reicht nicht aus. Denn, wer definiert, was Gemeinde ist? Und wer definiert, wie diese Lebendigkeit auszusehen hat? Welches Kirchenbild bildet die Grundlage für die Synodalentscheidungen der Lebendigen Gemeinde in den nächsten sechs Jahren?
Das Wahlprogramm hat nur die klassische parochial verfasste Gemeinde im Blick. Die Gemeinde, der die Liebe der Lebendigen Gemeinde gilt, ist wohl eine traditionelle Ortsgemeinde, in der eine Pfarrperson mit ihren Ehrenamtlichen die zentrale Rolle spielt. Was ist mit all den anderen Formen von Gemeinde? Was ist z.B. mit dem Hospitalhof in Stuttgart, der Diakonie, kirchlichen Krankenhäusern, Gefängnissen, Studierendengemeinden? Sie alle tragen dazu bei, dass Kirche wahrgenommen und ernst genommen wird. Zu behaupten, „eine Landeskirche hat dann Ausstrahlung, wenn sie starke Gemeinden hat“ (S. 41) greift viel zu kurz.
Dazu passt auch, dass für die Lebendige Gemeinde eine Kirchengemeinde ohne Pfarrperson wohl nicht denkbar ist. Was über die ländlichen Regionen gesagt wird, ist dafür beispielhaft: „Jedes Gemeindeglied kennt das Gesicht und die Stimme seines Pfarrers. So soll es auch bleiben.“ (S. 15) Dies ist ein reines Wunschbild. Es wird verkannt, dass biblisch betrachtet Gemeinden auch ohne Pfarrperson richtige Gemeinden sind.
Die Rolle der Ehrenamtlichen in der Kirche wird zwar betont, bei genauerem Hinsehen bleiben sie aber Mitarbeitende zweiter Klasse. So heißt es über die Ehrenamtlichen: „Sie sind jedoch nicht Lückenbüßer für fehlende Kraft im Pfarramt, sondern eigenständig Mitarbeitende, die gaben- und funktionsorientiert gefördert und eingesetzt werden.“ (S. 42) Das klingt gut. Aber warum wird im Passiv formuliert? Von wem werden die Ehrenamtlichen eingesetzt? Da sie sich wohl kaum selbst einsetzen, ist hier doch wieder eine hauptamtliche Person im Blick, die entscheidet und die Ehrenamtliche nach eigenen Vorstellungen einsetzt. Das passt nicht zum geforderten „Priestertum aller Glaubenden“.
Es täte der Lebendigen Gemeinde gut, wenn sie den Blick weiten und nicht nur ihr eigenes Netzwerk und ihr traditionelles Bild von Gemeinde zum Maßstab von Kirche machen würde. Dann käme es auch nicht zu folgender Fehleinschätzung beim Blick auf die sinkenden Mitgliederzahlen: “Wir müssen also annehmen, dass immer weniger Menschen nach dem lebendigen Gott fragen.“ (S. 15) Das stimmt so nicht. Es gibt jede Menge Menschen, die ohne evangelische Kirchenmitgliedschaft nach Gott fragen oder an ihn glauben und es gibt jede Menge an Gott desinteressierte innerhalb der Kirche.
Obwohl die Lebendige Gemeinde den Anspruch hat, sich bei allem an Jesus Christus und an der Bibel zu orientieren, sind eigene Vorstellungen an manchen Stellen doch stärker. So wird behauptet: „Der Gottesdienst ist die Mitte der Gemeinde.“ (S. 42) Dieser Platz steht nur Jesus Christus selbst zu. Gemeinde gibt es auch ohne württembergischen Predigtgottesdienst (vgl. Mt 18,20)! Im Blick auf die Ehe ist von einem „besonderen Segen“ (S. 30, 42) die Rede. Biblisch ist auch das nicht. Im Schöpfungsbericht werden die Menschen mit genau derselben Formulierung gesegnet wie die Wassertiere und Vögel. Es gibt keinen „einzigartigen“, „besonderen“ Ehesegen in der Bibel.
Peinlich ist, dass die Broschüre der Lebendigen Gemeinde nicht durchgängig in inklusiver Sprache verfasst ist. Vor allem, wenn von Hauptamtlichen in der Kirche die Rede ist, wird meist nur die männliche Form verwendet. Fehlt hier das Bewusstsein, dass ein großer Anteil unserer Hauptamtlichen Frauen sind? Übrigens, warum sind alle Frauen, die in der Broschüre groß abgebildet werden, nur helfend, dienend und lächelnd dargestellt. Hat Gott ihnen keine Gaben zur Leitung gegeben?
Nicht nachvollziehbar ist, dass Worte wie „Klimawandel“ und „Fairtrade“ überhaupt nicht vorkommen. Warum fällt der Lebendigen Gemeinde zur Bewahrung der Schöpfung so wenig ein? Der kleine Abschnitt zu diesem Thema auf S. 42 reicht nicht aus. Kirche muss selbst Vorbild sein. Nur „für einen verantwortlichen Lebensstil“ zu „werben“ (S. 42) wird unserer Verantwortung nicht gerecht.
Merkwürdig sind die letzten beiden Sätze auf der Rückseite der Broschüre: „Jesus selbst verbindet mit seiner Gemeinde eine große Verheißung: Zusammen dürfen wir sein Licht für diese Welt sein.“ Jesus sieht das anders. Er sagt: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Matthäus 5,14). Im biblischen Original handelt es sich um einen Zuspruch, nicht um eine Erlaubnis. Wenn Kirche eine Zukunft haben will, müssen wir Jesus beim Wort nehmen und mutig seine Botschaft leben.
Dr. Jens Schnabel, Pfarrer, 1. Vorsitzender von Kirche für morgen
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