Lauf, Pinguin, lauf! 

Ein Pinguin kann sich an Land fortbewegen, das klappt. Aber haben Sie ihn schon mal beim Schwimmen beobachtet? Absolut kein Vergleich!  

Jede und jeder von uns hat, biblisch gesprochen, besondere Gaben und Fähigkeiten: werden diese eingebracht und gelebt, ist das wie beim Pinguin im Wasser. Niemand will doch wie der Pinguin am Land tapsig rumstolpern, weil wir Dinge tun müssen, die wir zwar irgendwie hinbekommen, für die wir aber nicht gemacht sind. Deshalb sind wir als Teams zusammengestellt: Wir ergänzen und bereichern uns gegenseitig.  

Das gilt für alle Haupt- und Ehrenamtlichen gleichermaßen. Niemand kann alles, egal welches Amt er oder sie in unserer Kirche bekleidet. Nimmt man diesen Gedanken ernst, ist die zentrale Rolle des Pfarramtes in unserer Kirche ein Problem. Die multiplen Anforderungen müssen zwangsläufig in die Überforderung führen. Andere Menschen kommen dagegen nicht zum Zug mit ihren Kenntnissen und Fertigkeiten. Übrigens können wir schon in Epheser 4 von verschiedenen Fähigkeiten lesen: da werden Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer aufgezählt. Sie haben unterschiedliche Begabungen. Was sie eint, ist das gemeinsame Ziel: Die Gläubigen zu befähigen für ihren Dienst. Sie sollen nicht alles selber machen, sondern die Christen dazu in die Lage versetzen, ihren Glauben zu leben. Heute nennt man das Empowerment. Luther sprach vom Priestertum aller Gläubigen. 

Wie gelingt das? In Epheser 4 heißt es „bemüht euch darum, die Einheit zu bewahren. … Der Frieden ist das Band, das euch alle zusammenhält.“ Sprich: Einander zugewandt und verbunden sein, sich nicht auf Kosten anderen aufspielen und für noch wichtiger halten. In Demut die eigene Rolle annehmen und nicht um der Macht willen überall mitmischen wollen – und sich an dem freuen, was andere können und was ihnen gelingt.  

Autonomy, Mastery, Purpose (deutsch: Eigenständigkeit, Können und Sinnhaftigkeit) – mit diesen drei Stichworten beschreibt Daniel Pink die wesentlichen Aspekte, die Menschen motivieren. Etwas eigenverantwortlich tun zu dürfen, das eigene Können ins Werk zu setzen und weiterzuentwickeln und schließlich einen Sinn erleben bei dem, was man tut. Für die Kirche der Zukunft brauchen wir genau das. Menschen, die sich nicht als Handlanger und Lückenbüßer erleben – egal ob Haupt- oder Ehrenamtliche – sondern die Gaben leben, die ihnen von Gott geschenkt sind: mit Verantwortung, Können und Sinn. Ganz im Sinne von Epheser 4. 


Autoren:
Andreas Arnold und Matthias Bredemeier
Vorsitzende von Kirche für morgen

Burnout als Risiko in der Teamarbeit 

…und plötzlich läuft es in der Kirchengemeinde nicht mehr wie gewohnt, weil eine:r im Team wegen Burnout auf unbestimmte Zeit fehlt. Dieses Ereignis kennen viele ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiter:innen aus dem eigenen Gemeindeleben. Doch wie kommt es dazu? Und vor allem: Kann man etwas dagegen unternehmen? 

Die Sache auf den Grund gehen 
Bei der Entstehung eines Burnouts treffen immer äußerliche Belastungen mit der inneren Haltung einer Person zusammen (siehe Abbildung 1). Aus dem Aufeinandertreffen dieser Faktoren entstehen Enttäuschungen. Diese steigern die persönliche Belastung. 

Nun: Was fördert die eigene Gesundheit und Widerstandskraft im Auf und Ab unseres Lebens? Die Forschung hat eine ganze Reihe von sog. Resilienzfaktoren ausgemacht. Dabei ist Resilienz die Widerstandsfähigkeit in den Widrigkeiten des Lebens.  

Zu diesen Resilienzfaktoren gehört die Empathie, also das Einfühlungsvermögen. Das haben wir im besten Fall zunächst in uns selbst. Wir können die eigenen Gefühle spüren, sie körperlich sowie sprachlich ausdrücken können und schließlich lernen, sie zu regulieren. Oder wie schon M. Luther sagte: „Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel der Sorge über deinem Haupt kreisen, aber du kannst dafür sorgen, dass sie nicht Nester in deinen Haaren bauen.“ Ein wichtiger, aber eher unbekannter Resilienzfaktor ist die Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Dabei kommt es nicht auf eine objektive Wirksamkeit an, sondern darauf, dass ich überzeugt bin, dass ich wirksam bin. Ob ich diese Wirksamkeit im beruflichen oder im ehrenamtlichen oder privaten Feld erlebe, ist dagegen nicht so wichtig.  

Resilienz hat damit zu tun, Unterschiede machen zu können, vor allem, wenn ich auf Beschränkungen treffe, die das Leben mir zumutet, und nach Erfahrungen des Scheiterns. Hier geht es um zweierlei: Erstens sollte man unterscheiden, worauf ich Einfluss habe und worauf nicht, um sich mit verbindlichem zu arrangieren. Deshalb wird dieser Punkt auch häufig Akzeptanz genannt. Nach Erfahrungen des Scheiterns gilt es zweitens, resilient statt depressiv zu reagieren: Ich übernehme die Verantwortung für meinen Teil am Scheitern und vertraue darauf, dass es beim nächsten Mal besser gehen wird. 

Zu den eher bekannteren Resilienzfaktoren zählen die Fähigkeit, soziale Netzwerke zu unterhalten und sich an ihnen zu beteiligen: Familien, Freundschaften, ehrenamtliche Arbeit und Teilhabe am Gemeinwesen kann resilient machen. 

Auch gelebte Spiritualität schützt: zu glauben und zu erleben, dass man zu etwas Größerem gehört, zu Gott und zur Menschheit. Genauso zählt realistischer Optimismus zu den Resilienzfaktoren, Betonung auf realistisch. 

Ist Prävention das A und O? 

Äußere Umstände allein machen nie einen Burnout. Der passiert nur in Kombination mit der mangelnden inneren Fähigkeit die äußere Belastung zu bewältigen. Insofern können Verbesserungsvorschläge für die Ausbildung nur das Risiko mindern. Sicher könnte man an der Ausbildung immer wieder vieles ändern. Das geschieht auch. Dennoch kann man nicht verhindern, dass auch die nächste Generation mit ihren eigenen Themen in Krisen und Burnout geraten kann. Viel wichtiger ist dagegen, dass Menschen Bewältigungsmechanismen lernen, die den Resilienzfaktoren entsprechen. Die Forschung hat nämlich nachgewiesen, dass exakt dieselben äußeren Umstände eben manche in den Burnout treiben und andere überhaupt nicht. Das gilt für hauptamtlich arbeitende Menschen ebenso wie für ehrenamtlich Arbeitende. 

Hinweise gegen die Burnout-Spirale 

  • Multitasking vermeiden. 
  • Feste Zeiten für E-Mail-Bearbeitung, Sprech- und Lesezeiten einrichten. 
  • Mit mir selbst und anderen Menschen wertschätzend statt abwertend reden. 
  • Mit Zeitmanagement-Methoden den Zeitdruck mindern. 
  • „Nein“ sagen lernen. 
  • Fehler wohlwollend unter die Lupe nehmen: Welche Erkenntnisse könnte ich daraus gewinnen? 
  • Rollenerwartungen überprüfen. Widersprüchliche Rollen bringen konträre Erwartungen mit sich. Das führt zu hohem Stress: Vorgesetzte:r und Seelsorger:in für dieselbe Person sein zu wollen, ist oft unmöglich! 
  • Unklare Zielvorgaben in klare Vorgaben verwandeln. 
  • Überforderung mir selbst eingestehen und entsprechende Aufgabe abgeben. 
  • Unterforderung und zu viel Routine mit den Kollegen besprechen. Das Team sollte neue Herausforderungen definieren. 
  • Mich von zu hohen Idealen verabschieden, indem ich ein Teil meines Gehaltes als Schmerzensgeld verstehe.  
  • Überstunden mit gutem Gewissen abfeiern! 
  • Meine Beziehung zu Gott und mein soziales Netzwerk pflegen. 
  • Konflikte und Kritik immer face-to-face, niemals schriftlich oder digital. 
  • Zeit für mich allein nehmen, abgesehen von Freund:innen, Hobbies, usw.  
  • Mir regelmäßig und ehrlich die Frage stellen: Fühle ich mich gerade wohl? 
  • Mich für eine gute Sache engagieren
  • Sport so betreiben, dass ich meinen Körper spüre. 
  • Eine Entspannungsübung wählen, die ich auch in Stresszeiten durchführen kann. 
  • Hilfe annehmen. 
  • Jemanden lieben. 
  • Humor kann vermeiden, dass manche Dinge nicht todernst werden und uns im Übermaß frustrieren. 

Autorin:
Dr. Dagmar Kreitzscheck

Zitronenfalter 02/2024

Liebe Leserinnen und Leser,

Wir freuen uns! Der neue Zitronenfalter ist da. Diesmal geht es um das Thema: „Team Works?“ Insbesondere über die Zusammenarbeit von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen in der Kirchengemeinde. Über dieses Thema finden Sie verschiedene Beiträge, Methoden und Interviews, wie man eine gute Zusammenarbeit bewirken kann. Interviews wurden zum Beispiel mit der Christchurch Spitalfields in Ostlondon oder dem Jesus-Projekt in Erfurt geführt. Zudem berichtet Dr. Dagmar Kreitzscheck über Präventionen von Burnout in der Teamarbeit und es gibt auch einen kleinen Blick in die Zukunft des Ehrenamts.

Interessiert? Das komplette Heft können Sie hier lesen oder als PDF herunterladen.

Viel Spaß beim Lesen.

Team Works in der Christ Church Spitalfields

Ich (Tobias Stippich) habe nach meinem Abitur ein Jahr in London in der Christ Church Spitalfields in Ostlondon verbracht. Die Teamarbeit dort hat mich sehr fasziniert. Mit Pfarrer Darren Wolf spreche ich darüber, was wir von ihnen lernen können.  

Darren, stell uns deine Gemeinde erst einmal vor. 

Wir gehören zur anglikanischen Kirche und haben ungefähr 300 aktive Gemeindemitglieder, die zwei verschiedene Gottesdienste besuchen, einen morgens um 11 Uhr und einen speziell für Menschen unter 25 abends um 17 Uhr. Wir haben einen weiteren Pfarrer und insgesamt 18 Hauptamtliche in der Gemeinde. Die meisten davon kümmern sich um das Gebäude.  

Die meisten kümmern sich um das Kirchengebäude? 

Ja, so läuft das bei uns. Wir betreiben nämlich auch ein Event-Business, das unseren Kirchenraum für private Feste, Firmenfeiern oder auch Konferenzen vermietet. Das finanziert die kompletten Ausgaben für das 300 Jahre alte Kirchengebäude.  

Welchen Hintergrund haben die verschiedenen Mitarbeitenden?  

Alle im Leitungsteam haben eine theologische Ausbildung. Nicht alle haben darin einen Abschluss oder ein extra Studium absolviert, aber zumindest einen Kurs an der Hochschule besucht. Die Leute, die für uns arbeiten, kommen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen. Sie haben oft davor etwas ganz anderes gemacht und dann gemerkt, dass sie gerne für eine Kirchengemeinde arbeiten wollen.  

Welche Rolle kommt Ehrenamtlichen zu? 

Bei uns arbeiten pro Monat ungefähr 140 Menschen ehrenamtlich in unterschiedlichen Bereichen mit: Gemeindearbeit, Finanzen, Personal, gemeinnützige Aktionen wie unsere Arbeit mit Obdachlosen und Glaubenskursen. Ganz ähnlich wie der Kirchengemeinderat bei euch haben wir einen „church council“, der gewählt wird. Viele Leitungsaufgaben liegen allerdings rein praktisch dann doch bei mir als Pfarrer. Wir versuchen allerdings so gut es geht, Menschen, die nicht ordiniert sind, in jeden Bereich der Gemeinde einzubinden. Deshalb haben wir insgesamt 58 ehrenamtlich Leitende in der Gemeinde, die etwa unsere Hauskreise oder andere Bereiche unserer Gemeinde verantworten. Für deren Ausbildung bieten wir regelmäßig Workshops an. 

In einer Stadt wie London gibt es so viele Möglichkeiten, sich zu engagieren. Wie motiviert ihr Menschen? 

Ich habe zwei Tipps für euch. Erstens: Wenn du möchtest, dass Menschen sich in deiner Gemeinde einbringen, dann musst du zuerst in deine eigene spirituelle Entwicklung investieren. Es geht um simple Sachen wie Beten und Bibellesen. Aber auch darum, vorzuleben, was es bedeutet, Christin oder Christ zu sein. Wenn du es nicht vorlebst, warum sollten andere Menschen so leben wollen? Das zweite ist, dass Gemeinden sich nur weiterentwickeln, wenn Leitende Verantwortung delegieren können. Da geht es nicht nur um Aufgaben wie die Lesung im Gottesdienst oder den Kaffeedienst. Es geht darum, Verantwortung abzugeben für wichtige Aufgaben und Bereiche. Dabei sollen Menschen ihre eigenen Erfahrungen und Fehler machen dürfen. 

Was ist dein größtes Learning, wie man Menschen motivieren kann, mitzumachen? 

Ich habe zwei Learnings. Erstens: Es ist sehr schwer, Menschen zur Mitarbeit zu motivieren. In London bemerken wir besonders, wie individualistisch Menschen unterwegs sind und wie stark auch Religion als Konsum verstanden wird. Leute kommen in unsere Gottesdienste und erwarten, dass sie etwas konsumieren können. Da reicht es nicht zu sagen: „Hey, hast du Lust hier mitzuhelfen?“ Sondern man muss auch erklären, warum unsere Gemeinde eine Mitmachgemeinde ist und sich als große Familie versteht, die mehr als nur abspielbares Programm bietet. Und zweitens: Menschen sind auf einem Weg mit unterschiedlichen Startpunkten. Wir stehen deshalb nie vorne und sagen: „Wir brauchen unbedingt Mitarbeiter, damit es auch weiterhin Kaffee vor unseren Gottesdiensten gibt.“ Druck und Zwang mag niemand gerne. Deshalb sind wir immer mit einzelnen im Gespräch und suchen einen passenden Platz für sie, mit dem sie sich wohlfühlen: „Du liebst doch Kaffee. Wäre es nicht eine coole Idee, Menschen Kaffee zu servieren? Magst du das mal ausprobieren?“.  

Vielen Dank dir, Darren, dass du deine Erfahrungen mit uns geteilt hast.  


Autor: Tobias Stippich 
Mitglied im Redaktionsteam 

Theresa Brückner: Loslassen, Durchatmen, Ausprobieren 

Sieben „Todsünden der Kirche“ stellt die Autorin in ihrem Buch auf und präsentiert jeweils eine konstruktive Gegenthese, in der sie ihren Traum von Kirche zeichnet. Im Kap. 3 bedauert sie z.B. den „Überlastungsstolz“ vieler Hauptamtlichen, insbesondere in der Boomer-Generation. Sie wirbt dagegen für eine Kultur der Achtsamkeit. Die Berliner Digitalpfarrerin berichtet aus der eigenen Praxis, bei der sie alle Formate auf den Prüfstand stellt: Sind sie wirklich zielgruppenorientiert? Sie erzählt, wie sie z.B. einen Gottesdienst mit Jugendlichen radikal neu konzipierte (Kap. 2). Sie zeigt auf, wie Kirche nicht nur für die üblichen Verdächtigen da ist (Kap. 4) und wünscht dabei eine ganze Bandbreite an Mitgliedschaftsformen. Anstatt im Hintertreffen zu landen, sollte die Kirche eine Vorbildrolle der Kirche in der Gesellschaft übernehmen (Kap. 5). Schutzmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt stellen für sie keine Nebensache dar, sondern sind ein fester Bestandteil der kirchlichen Arbeit (Kap. 6). Zum Schluss ist Kap. 7 eine wahre Fundgrube mit Tipps für Influencer. Ein Buch zum Wachrütteln! 


Autor:

Blaise Gourget 
Mitglied im Redaktionsteam des Zitronenfalters 

Das Jesus-Projekt

Renate und Hermann Brender sind im Ruhestand aufgebrochen und haben in Erfurt beim Jesus-Projekt ehrenamtlich mitgearbeitet und -gelebt. Das Jesus-Projekt ist eine diakonisch-missionarische Initiative, die 2004 von zwei Ehepaaren und bald dazu zwei Singles ins Leben gerufen wurde. Sie haben in der Platte Wohnungen gemietet und dort mit denen gelebt, die sich arbeits- und perspektivlos am Anlagenbrunnen mit dem Bier in der Hand getroffen haben. Heute arbeitet das Jesus-Projekt mit Kindern und Familien, mit Leuten mit Sozialstunden und im Café als Treffpunkt für Alleinstehende. 

Im Gebiet „Roter Berg“ sind ca. 60 % der Familien auf Staatsleistungen angewiesen. Oft sind Eltern mit der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder überfordert. „Bärenstark“ als Familienbildungsangebot bietet für sie deshalb ein vielseitiges Programm an, wie etwa „kochen und richtig ernähren“ oder „die Natur erleben“. Die Kinder lernen, was sie für ein selbstständiges Leben brauchen und entdecken den christlichen Glauben.  

Im Begegnungszentrum „ANDERS“ bekommen Menschen, die Sozialstunden ableisten müssen oder von Einsamkeit geplagt sind, neue Perspektiven: eine Tagesstruktur, regelmäßige gesunde Mahlzeiten und die Möglichkeit, sich in einer Werkstatt praktisch einzusetzen. Außerdem engagiert sich das Jesus Projekt im Bereich Streetwork und bietet mit Picknicks, Begegnungscafés und Initiativen gegen Einsamkeit ein vielfältiges Angebot für Zielgruppen, die oft vergessen werden. 

Die Mitarbeitenden bilden bis heute eine Lebensgemeinschaft, die das Jesus Projekt trägt. Das Jesus Projekt ist Teil der Diakonie Mitteldeutschland. Organisiert ist es als Verein. Mehr auf www.jesus-projekt-erfurt.de  

Was ich (Hermann Brender) in der Platte für die Zukunft der Kirche gelernt habe

Ich und meine Frau wollten zu Beginn unseres Ruhestandes nochmal etwas Neues kennenlernen und sind auf das Jesus-Projekt, eine sozial-missionarische Initiative in der Erfurter Platte, gestoßen. Dort haben wir die letzten sechs Jahre als Teilzeitthüringer mitgewirkt. Drei Dinge habe ich gelernt:   

Beteiligung statt Konsum 

Im Jesus-Projekt werden viele einbezogen. Hauptamtliche, Ehrenamtliche und selbst Teilnehmende mit Suchthintergrund arbeiten selbstverständlich gemeinsam. Ich denke, Menschen halten sich zur Gemeinde, wenn sie beteiligt werden und nicht nur eingeladen sind zu dem, was andere ihnen vorsetzen. Das zeigt sich z. B. auch an den Vesperkirchen bei uns im Ländle, in denen enorm viele Ehrenamtliche engagiert mitarbeiten. Die Zeit, in der einfach nur Predigten und Gottesdienste konsumiert werden, ist aus meiner Sicht vorbei. Die Zukunft gehört dem gemeinsamen Gestalten.  

Wertschätzung als Schlüssel  

Manchmal habe ich in unserer Kirche das Gefühl, dass ehrenamtliches Engagement als Einmischung, sogar als Bedrohung angesehen wird. Denn wo viele sich einbringen, da sprengt das oft die Statik einer ordentlich verwalteten Gebietskörperschaft. Wenn überhaupt, dann sollen nur Menschen mitarbeiten, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihres Berufs oder ihrer Begabungen viel Kompetenz mitbringen. Im Jesus-Projekt habe ich das anders erlebt: Hier wurde auch Menschen etwas zugetraut, die sonst das Gefühl haben, ungebraucht und ungeeignet zu sein. Für viele war es eine echte Ehre, wenn sie für die Mitarbeit angefragt wurden. Manche haben zum ersten Mal erlebt, dass sie etwas Wichtiges beitragen können und ihnen dafür öffentlich gedankt wird. Diese ehrliche Wertschätzung prägt die ganze Arbeit des Jesus-Projekts. Ich bin immer mehr davon überzeugt: So geht Reich Gottes!  

Mit- statt Gegeneinander 

Beim Jesus-Projekt sind Menschen aus ganz unterschiedlichen christlichen Gemeinden mit dabei und haben sich in verschiedenen Konstellationen ergänzt. Das hat mich begeistert! Bei diakonischen Diensten ist die Zusammenarbeit über Kirchengrenzen hinweg oft problemlos möglich, ohne dass man Gottes Wort beiseitelassen muss. Gemeinden sollten deshalb viel enger mit Diakonie und Caritas zusammenarbeiten. Das öffnet unserer Erfahrung nach auch Räume für Menschen, denen der intellektuelle Zugang unserer Gottesdienste nicht liegt.  

Brave New Church – das war unser Forum 2023

Am 21. Oktober war es so weit: Das erste KFM-Forum nach der Corona-Pandemie hat in Kleinsachsenheim stattgefunden!

Zunächst konnten die Teilnehmer:innen durch den fundierten Vortrag von Peter Burkowski nachvollziehen, wie die Gestalt und Struktur unserer parochialen Kirche erst im 19. Jahrhundert entstanden sind: Durch die Landflucht und Verstädterung war die Verteilung der Kirchenmitglieder in Ungleichgewicht geraten. Um die pastorale Begleitung der Mitglieder – insbesondere in den Städten – zu garantieren, verteilten die Kirchenleitungen die Pfarrstellen nach dem parochialen Prinzip. Burkowsi hob außerdem hervor, dass der heutige Normalfall der „generalistischen Kirchengemeinde“ (in einer Gemeinde gibt es Angebote für alle mögliche Zielgruppen) in der Bismarck’schen Zeit entstand: Analog zu den damals entstandenen Vereinshäusern schossen Anfang des 20. Jahrhunderts die Gemeindehäuser vom Boden. Diese Immobilie ist heute sowohl Betätigungsraum für Gruppen als auch Sorgenkind vieler Kirchengemeinderäte. Burkowskis Analyse: Man sollte den Nutzen der Gemeindehäuser prüfen und mit Alternativen abwägen. Die Lösungen von gestern mögen für ihren gesellschaftlichen Kontext bahnbrechend gewesen sein, sie weisen uns aber nicht automatisch den Weg in die Zukunft hin. Er betonte: „Unsere (aktuelle) soziale Form ist nicht das Evangelium.“

Dem Vortrag folgte ein Workshop: Alle Teilnehmer:innen konnten miteinander diskutieren, wie Kirche neu gedacht und gestaltet werden könnte. Als Grundgerüst dienten sechs Thesen von Uta Pohl-Patalong über die Zukunft der Kirche. An Stationen konnten die Teilneher:innen ihre Ideen und Anregungen einbringen und auf Stellwänden festhalten. Es wurde unter anderem angeregt, dass kirchliche Innovationen konsequenterweise im Kirchenrecht und im kirchlichen Haushalt genauso „normal“ werden wie das Modell der parochialen Kirchengemeinde. Bezüglich der kirchlichen Berufe wurde hinterfragt, ob der obligatorische Religionsunterricht für alle Pfarrpersonen einer begabungsorientierten Personalpolitik entspräche. Und nicht zuletzt bewegte die Frage, welche Vision von Kirche notwendig ist, damit Menschen dem Evangelium von der unbedingten Liebe Gottes begegnen können.

Nicht nur wurde Zitronenkuchen gegessen: Zum Abendessen versorgte der Foodtruck alle Anwesenden mit vegetarischen Speisen. Zwischen dem Ende des Forums und der anschließenden Mitgliederversammlung konnten viele Gespräche und Begegnungen stattfinden.

– Ein Artikel von Blaise Gourget

Rassismus macht nicht vor der Kirchentüre halt

Wenn wir von Rassismus reden, reden wir oft von den anderen. Warum nicht einmal über uns selbst?

Wenn ich mir Talkshows zu den Themen Rassismus oder Identitätspolitik ansehe, erlebe ich häufig ein Schwarz-Weiß- Denken, das die Debatten aufkochen und die Menschen streiten lässt. Dabei sehe ich gerade in diesen Themen eine große Chance für uns Christ*innen, bessere Dialoge führen zu können. Gleichzeitig ist es als Kirche gefährlich, das Thema Rassismus von außen zu betrachten und uns als „die Guten“ zu betrachten. Als die, die nichts mit strukturellem Rassismus zu tun haben.

Wenn ich von Rassismus spreche, meine ich nicht den vielzitierten Rechtsextremismus und auch nicht jenen Rassismus, der Deutschland bis 1945 beherrschte. Ich meine eine rassistische Prägung, die sich seit der Aufklärung unbemerkt in uns verankert hat. Zur Zeit der Aufklärung brauchten die Menschen einen Legitimationstrick, mit dem es ok war, zum einen die Werte der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – hochzuhalten und zum anderen die Menschen kolonial auszubeuten.

Also haben Gelehrte aus Philosophie, Kirche und Wissenschaft dazu beigetragen, ein Rassenkonstrukt in die Welt zu tragen und aufrechtzuerhalten, in dem eins feststand: Ganz oben steht die „weiße Rasse“. Eine Rasse, die die Werte der Aufklärung in sich vereint. Alle anderen sind Menschen zweiter Klasse und wurden entmenschlicht.

Heute wissen wir natürlich, dass es keine biologischen Menschenrassen gibt. Und doch gibt es immer wieder Äußerungen, die auf eben diese Klassifizierung zurückführen. Zum Beispiel wenn in der Kirche davon gesprochen wird, dass unsere afrikanischen Geschwister „Rhythmus im Blut“ haben oder die Deutschen „per se pünktlich“ sind und eine „innere Uhr sie antreibt“. Oder wenn in Medien darüber spekuliert wird, warum Läufer*innen aus Kenia bei den olympischen Spielen so schnell sind und sauber finanzierte Studien dann herausfinden wollen, dass die kenianische Wade im Schnitt 15 Gramm leichter ist. Vergleichbare Studien sucht man bei weißen Schwimmweltmeister*innen vergebens, weil bei ihnen die Gründe „Fleiß und hartes Training“ ausreichen.

Diese Bilder werden auch in unserer Kirche verfestigt, weil dort People of Color durchaus im kirchlichen Kontext zu sehen sind, aber fast ausschließlich als hilfsbedürftige Protagonist*innen auftreten, beispielsweise in der Diakonie, auf Spendenplakaten, bei der Arbeit mit Geflüchteten, der Hausaufgabenhilfe, auf der Fairtrade- Schokolade …

Wir sehen sie aber kaum bis gar nicht auf der Kanzel, im Kirchengemeinderat, der Kirchenleitung, im Mitarbeiter*innenkreis oder in unterschiedlichsten Planungstreffen.

Wenn ich heute durch die Innenstadt laufe, sehe ich deutlich, dass unsere Gesellschaft zu etwa einem Viertel aus Menschen mit Migrationshintergrund besteht. Der Anteil bei den Kindern unter fünf Jahren liegt sogar bei 41 Prozent. Wenn ich Sonntag morgens in den Gottesdienst gehe, sehe ich von dieser Vielfalt nichts. Die Diskrepanz ist aber kein Zufall, denn sie hat mit den verfestigten Bildern und Vorurteilen zu tun und mit der mangelnden Aufarbeitung der eigenen kolonialen Verstrickungen in der Entstehung des Rassenkonstrukts. Ich selbst konnte mir zum Beispiel nie vorstellen, Pfarrerin zu werden, weil es für mich in der Kirche schlichtweg keine Vorbilder gab. „You can only be what you can see“ – es gibt an den entscheidenden Stellen unserer Kirche bis heute viel zu wenig People of Color.

Und wenn wir schon über Rassismus reden, reden wir nur zu oft von den anderen und betrachten uns als Kirche viel zu selten mit der notwendigen Selbstkritik. Dabei hängt unsere Zukunftsfähigkeit doch auch davon ab. Gerade in Hinblick auf schwindende Mitgliedszahlen in einer pluralen Gesellschaft muss sich Kirche selbstkritisch in den Blick nehmen und so den vielfältigen Identitäten Beachtung und Achtung entgegenbringen.

In der Bibel sehen wir, wie Gott selbst sich von Anfang bis Ende an der Seite der Unterdrückten sieht: Gott rettet durch den Exodus, Jesus lebt und predigt, wo er sich und Gott in der Welt sieht. Und Paulus warnt vor Spaltung und ruft zur Liebe untereinander auf, in einer Kirche, die schon damals nicht mono-kulturell gedacht war. Außerdem sehen wir uns als Christ*innen als Leib Christi.

Dieses Bild des Leibes kann uns helfen, uns von latentem Schwarz-Weiß-Denken zu lösen und versteckte Rassismen gemeinsam zu überwinden.

Es mag wehtun, Rassismus bei sich selbst zu erkennen. Es mag schwer sein, die Dinge anders zu betrachten als wir es gewohnt sind. Doch so können wir gemeinsam Verantwortung übernehmen,

uns verändern und die nachfolgenden Generationen prägen und zu einer gemeinschaftlichen Kirche werden, von der bereits Paulus, Martin Luther King und viele andere geträumt haben.

Sarah Vecera
Theologin, Aktivistin, Mama Autorin „Wie ist Jesus weiß geworden?“

Ausgrenzung und Umarmung

Die Realität im einundzwanzigsten Jahrhundert beunruhigt. Die einfache Tatsache, in irgendeiner Weise anders zu sein, wird als etwas Böses definiert. Warum macht uns das Fremde zu schaffen und wie können wir als Christ:innen glaubwürdig damit umgehen? Johannes Stahl hat seinen ehemaligen theologischen Lehrer Dr. Miroslav Volf befragt.

„Mein Auslandsstudium liegt ein Vierteljahrhundert zurück, damals in den USA begegnete mir Dr. Miroslav Volf, ein Europäer mit kroatischen Wurzeln. Volf ist inzwischen Professor in Yale und hat seine Thesen von Ausgrenzung und Umarmung, die mich in den 90ern gepackt haben, ausgereift und differenziert. Geboren aus der persönlichen Erfahrung einer tödlichen Unversöhnlichkeit in Serbien und Kosovo vertritt Volf die Ansicht, dass christliche Theologie Wege finden muss, um sich mit dem Hass auf Andere auseinanderzusetzen. Gibt es eine Hoffnung, unsere Feinde zu umarmen?

Gibt es eine Hoffnung, unsere Feinde zu umarmen?

Indem Volf auf die neutestamentliche Metapher der Erlösung als Versöhnung zurückgreift, schlägt er die Idee der Umarmung als theologische Antwort auf das Problem der Ausgrenzung vor. Er sagt: „Wir stellen zunehmend fest, dass die Ausgrenzung zur Hauptsünde geworden ist, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Angesichts dessen müssen Christen lernen, dass das Heil nicht nur dann kommt, wenn wir mit Gott versöhnt sind und nicht nur dann, wenn wir lernen, miteinander zu leben. Gottes Heil kommt, wenn wir den gefährlichen und kostspieligen Schritt tun, uns dem anderen zu öffnen, sie oder ihn in die gleiche Umarmung einzuschließen, mit der wir von Gott umarmt wurden.“

Identitätszentrierte Konflikte innerhalb und zwischen den Nationen waren lediglich Strömungen im großen Strom der globalen Integrationsprozesse und der Ausbreitung der globalen Monokultur – so dachten wir am Ende des letzten Jahrtausends. Aber die Welt ist nicht mehr geeint, und der Widerstand gegen die Globalisierung kommt nicht mehr nur von Randgruppen und kleineren Nationen. Aber auch, weil die Globalisierungsprozesse eine Spur des Leids und der Orientierungslosigkeit hinterlassen haben, die sich am deutlichsten in den außerordentlichen Diskrepanzen von Reichtum und Macht zwischen und innerhalb der Nationen der Welt, der fortschreitenden ökologischen Zerstörung und dem Verlust des Gefühls kultureller, religiöser und nationaler Identität und Kontrolle zeigt.

Ihr Motto lautet: „Europa wird entweder christlich sein oder es wird aufhören zu sein“

Nationale, ethnisch-kulturelle, religiöse, rassische, geschlechtliche und sexuelle Identitäten sind heue wesentliche Triebkräfte der Politik. Bei der Wahlkampagne „Make America Great Again!“, die Donald Trump ins Weiße Haus brachte, ging es vor allem um Identität, um die Wahl zwischen einem weißen, „jüdisch-christlichen“, nationalistischen Amerika und einem pluralistischen Amerika, in dem Gruppen mit unterschiedlichen, dominanten Identitäten unter einem Dach zusammenleben. Bei den extremen Rechten geht es um Identität.

Religionen haben immer auch ein Identitätsanliegen, aber sie werden oft mit anderen Identitäten und Interessen verbunden. Zwei Varianten des Christentums, der Katholizismus und die Orthodoxie, waren zusammen mit dem Islam der Grund für den Krieg zwischen ethnischen Gruppen im ehemaligen Jugoslawien, als Volf sein Buch „Ausgrenzung und Umarmung“ schrieb. In identitätszentrierten Kämpfen fungieren Religionen in der Regel als Marker für Gruppenidentitäten und als Werkzeuge im Dienst politischer Kräfte, die als Hüter dieser Identitäten auftreten. Sie verlagern den Konflikt in den Bereich des Sakralen und erhöhen seine Brisanz.

Die Praxis der Umarmung ist eine Dimension des wahren Lebens, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ermöglicht wurde.

Das ist schlecht für die Welt und für die Religionen selbst. In ihren Ursprüngen und in ihren besten historischen Ausprägungen sind alle Weltreligionen universelle Religionen, die jeden Menschen als menschliches Wesen ansprechen.

In der europäischen Neuen Rechten – „génération identitaire“ in Frankreich, „identitäre Bewegung“ in Deutschland und Österreich, „generation identity“ in Großbritannien – sieht Volf die einflussreichste politische Identitätsbewegung im Westen. Sie ist auch philosophisch eine der Anspruchsvollsten. Die Vertreter der europäischen Neuen Rechten lehnen nicht nur die angebliche Dekadenz und Leere der westlichen Kultur ab, sondern auch den Kapitalismus und das Primat der instrumentellen Vernunft, von denen man annimmt, dass sie dieser Dekadenz und Leere zugrunde liegen. Doch der Hauptfeind dieser Identitären sind die kosmopolitischen, multikulturellen und liberalen Globalisten. Sie sind es, die Europas Tore weit geöffnet haben für das, was der französische Schriftsteller und Polemiker Camus Renaud „Gegenkolonisation“, „die große Dekulturation“ oder „die große Ablösung“ nennt. Drei Begriffe für die Vorstellung, dass Menschen aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Subsahara-Afrika, die meisten von ihnen Muslime und alle nicht weiß, allmählich die weiße Mehrheit Europas, die Träger der christlich geprägten Zivilisation, ersetzen.

Die meisten europäischen Identitären sind Christen, oft junge, konservative Katholiken; selbst die Atheisten unter ihnen bestehen auf dem christlichen Charakter des säkularen Westens. Ihr Motto lautet: „Europa wird entweder christlich sein oder es wird aufhören zu sein“. Wenn es jedoch um den Inhalt ihrer gesellschaftlichen Vision geht, ist der christliche Glaube, den die europäischen Identitären ebenso wie ihre Pendants in Amerika und Russland für sich beanspruchen, zu einem sakralisierten Identitätsmerkmal und einem Werkzeug in politischen Kämpfen ausgehöhlt worden.

Die Identität eines Menschen als „Ebenbild Gottes“ und „Kind Gottes“ wird bei Caroline Sommerfeld, einer führenden Philosophin der Neuen Rechten, in andere Identitäten eingepasst und nicht umgekehrt. Wir sind in erster Linie Mitglieder unserer ursprünglichen Gemeinschaft – Heimat, geografische Region usw. – und erst in zweiter Linie Mitglieder der vielfältigen menschlichen Gemeinschaft oder der Kirche, dem einen Volk Gottes, das viele Sprachen spricht. „Zuerst kommt der Schoß der Mutter, das Haus des Vaters, das Dorf, die Gegend, das Land, der Nationalstaat, zuletzt die Menschheit“, schreibt Caroline Sommerfeld.

In „Ausgrenzung und Umarmung“ geht es Volf um Identität, aber er ist nicht identitär.

… dass die Feindesliebe, die in Gottes Umarmung der sündigen Menschheit in Christus zum Ausdruck kommt, für den christlichen Glauben und das Leben in der Welt von grundlegender Bedeutung ist.

Für Volf ist die Praxis der Umarmung und die Theologie, die sie untermauert, eine Dimension des wahren Lebens, eine Art von Leben, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ermöglicht wurde. Das Bekenntnis zu Christus als dem wahren Leben steht im Gegensatz zu der Vernachlässigung dessen, was in den hyperindividualistischen, marktorientierten Gesellschaften der Gegenwart am wichtigsten ist.
Volf hält fest: „Gottes unveränderliche und bedingungslos liebende Beziehung zu allen Menschen (Johannes 3,16) begründet deren gemeinsames Menschsein und Gleichheit. Der eine dreieinige Gott ist der Gott aller Menschen, von denen jeder ein einzigartiges und dynamisches Geschöpf einer bestimmten Zeit, einem Ort und einer Kultur ist.

In „Ausgrenzung und Umarmung“ geht Volf von einer solchen Darstellung des Charakters und der Herkunft der gemeinsamen Menschheit aus. Der Strang über identitätszentrierte Konflikte beruht auf der Überzeugung, dass die Feindesliebe, die in Gottes Umarmung der sündigen Menschheit in Christus zum Ausdruck kommt, für den christlichen Glauben und das Leben in der Welt von grundlegender Bedeutung ist: Die Unbedingtheit der göttlichen Liebe erfordert und ermöglicht die entsprechende Unbedingtheit der menschlichen Liebe.

Die Hauptthese von Volf ist folgerichtig: Der Wille, uns anderen hinzugeben und sie „willkommen“ zu heißen, geht jedem Urteil über andere voraus.

Miroslav Volf ist gebürtiger Kroate und Professor für Systematische Theologie an der Divinity School der Yale Universität in New Haven, Connecticut. Sein Werk „Exclusion & Embrace“ gilt „Christianity Today“ als eines der 100 besten religiösen Bücher des 20. Jahrhunderts und wurde 2002 mit dem Louisville Grawemeyer Award in Religion ausgezeichnet.

Nach Corona: Weiter so? Oder hoffentlich nicht…

Was hat Kirche aus Corona gelernt? Nach der Schockstarre reibt mancher sich die Augen und möchte so schnell wie möglich wieder zurück ins normale Kirchenleben. Aber was ist für Kirche eigentlich „normal“? Das haben wir Dr. Klaus Douglass gefragt und er macht Mut zu neuen Wegen.

Ich unterhielt mich dieser Tage mit einer jungen Pfarrerin, deren Gemeinde in der Coronakrise eine erstaunliche Entwicklung genommen hatte. Der Gottesdienstbesuch ihrer Gemeinde hatte sich trotz pandemiebedingter Einschränkungen fast verdreifacht. Die vormals recht kleine Schar der gemeindlich Aktiven hatte sich geöffnet und in der Krise mit verschiedenen Akteur*innen des Ortes kooperiert, um Masken zu nähen, Hilfsbedürftige zu unterstützen und gemeinsame Projekte zu stemmen. Ganz allgemein waren das Wir-Gefühl und der Zusammenhalt nicht nur innerhalb der Gemeinde, sondern auch innerhalb des Ortes deutlich gewachsen. Natürlich war Corona auch dort eine schlimme Zeit gewesen. Aber irgendwie hatte die Krise die Menschen dazu gebracht, zur richtigen Zeit die richtigen Dinge zu tun bzw. sich auf das zu konzentrieren, was im Endeffekt wirklich zählt: nämlich die Weitergabe von Glaube, Liebe und Hoffnung.

Endlich wieder Gottesdienste wie früher!?

Allerdings, so erzählte die junge Kollegin, waren im Frühsommer, als die Impfkampagne endlich zu greifen begann, gleich mehrere der früheren Gottesdienstbesucher*innen zu ihr gekommen und hatten gesagt: „Gott sei Dank, Frau Pfarrerin, jetzt können wir endlich wieder Gottesdienste und Veranstaltungen wie früher machen!“ Mit diesen Worten, so ergänzte sie, war die klare Erwartung verbunden, dass man endlich mit den ganzen Neuerungen aufhören und wieder zur guten alten Normalität zurückkehren solle.

Was uns zu der Frage bringt: Was ist für uns als Kirche eigentlich „normal“? Viele beantworten diese Frage aus der Vergangenheit heraus: Normal ist, was allgemein üblich ist. In diesem Sinne waren liturgische Gottesdienste mit einem Besuch von nicht einmal zwei Prozent der eigenen Mitglieder (von Nichtmitgliedern ganz zu schweigen) bis vor Kurzem „normal“. Oder Gemeinden, die sich stark nach außen hin abschotten, um eine Binnenkultur zu pflegen, die für Außenstehende weder leicht zugänglich noch inhaltlich nachvollziehbar ist. Das Problem mit diesem – vornehmlich an der vorhandenen kirchlichen Praxis orientierten – Normalitätsbegriff ist, dass das, was kirchliche Insider als „normal“ ansehen, für Außenstehende oft das genaue Gegenteil ist. Es ist für sie „unnormal“, weil es ihrem Lebensgefühl und ihrer Lebenswirklichkeit nicht nur nicht entspricht, sondern oft sogar widerspricht.

Was ist der Auftrag?

Vielleicht würde es helfen, wenn wir als Kirche den Begriff der Normalität nicht an dem festmachten, was allgemein üblich, sondern an dem, was uns aufgetragen und verheißen ist. Der Auftrag der christlichen Gemeinde wird in Matthäus 28,18-20 definiert: Geht hin zu den Menschen, gewinnt sie dafür, Jesus Christus nachzufolgen, integriert sie in eure Gemeinschaft und helft ihnen, sich im Wort der Heiligen Schrift zu verwurzeln. – Dass das geschieht, darf allein der Maßstab kirchlicher Normalität sein. Und umgekehrt: Wo das nicht geschieht, ist das eben nicht „normal“, selbst wenn wir da- bei auf eine noch so lange Tradition zurückblicken können und wenn dabei noch so viele fromme Worte gemacht werden.

Was die junge Kollegin in ihrer Gemeinde gemacht hat, war in diesem auftrags- und verheißungsorientierten Sinne „normal“. Als die herkömmlichen Gottesdienste coronabedingt nicht mehr durchgeführt werden konnten, wich sie auf andere Formate aus: Gottesdienste im Freien, Hausgottesdienste und Gottesdienste im Netz, wobei sie nicht einfach die klassischen Formate ins Internet streamte, sondern einfache Formate mit vielen Möglichkeiten zu Beteiligung entwickelte. Allesamt sehr persönliche, kommunikative und auf Be- ziehung ausgerichtete Formate.

Persönlich, kommunikativ, auf Beziehung aus

Ich glaube, dass solche Elemente der Beteiligung und des Zusammenwirkens unumkehrbar zur Zukunft nicht nur des Gottesdienstes, sondern unserer Kirche überhaupt gehören: Kirche in den unterschiedlichsten Netzwerken unserer Gesellschaft, Kirche im Sozialraum, Kirche in ökumenischer Weite und Kirche in globaler Verbundenheit: Wo immer Gemeinden sich in den Monaten der Pandemie auf einen derartigen Weg gemacht haben, haben sie inmitten der Krise einen guten Schritt nach vorne gemacht. Und es wäre jammerschade, wenn sie der Versuchung erlägen, nach Abklingen der Pandemie wieder zur alten „Normalität“ zurückzukehren. „Normal“ im auftrags- und verheißungsorientierten Sinn ist, was Menschen mit dem Evangelium in Berührung bringt, was ihnen hilft, sich darin zu verwurzeln und was sie dazu bringt, selbst Glaube, Liebe und Hoffnung weiterzugeben.

Wenn das mit den alten Mitteln und Formen besser gelang als mit den neuen, sollten wir zu diesen zurückkehren. Wenn die neu gefundenen Formen und Mittel allerdings hilfreicher sein sollten, sollten wir uns getrost von den alten verabschieden und auf jenem Weg weitergehen, den Gott uns in den letzten anderthalb Jahren geführt hat.

Dr. Klaus Douglass, Pfarrer und Direktor der evangelischen Zukunftswerkstatt midi in Berlin