Brave New Church – das war unser Forum 2023

Am 21. Oktober war es so weit: Das erste KFM-Forum nach der Corona-Pandemie hat in Kleinsachsenheim stattgefunden!

Zunächst konnten die Teilnehmer:innen durch den fundierten Vortrag von Peter Burkowski nachvollziehen, wie die Gestalt und Struktur unserer parochialen Kirche erst im 19. Jahrhundert entstanden sind: Durch die Landflucht und Verstädterung war die Verteilung der Kirchenmitglieder in Ungleichgewicht geraten. Um die pastorale Begleitung der Mitglieder – insbesondere in den Städten – zu garantieren, verteilten die Kirchenleitungen die Pfarrstellen nach dem parochialen Prinzip. Burkowsi hob außerdem hervor, dass der heutige Normalfall der „generalistischen Kirchengemeinde“ (in einer Gemeinde gibt es Angebote für alle mögliche Zielgruppen) in der Bismarck’schen Zeit entstand: Analog zu den damals entstandenen Vereinshäusern schossen Anfang des 20. Jahrhunderts die Gemeindehäuser vom Boden. Diese Immobilie ist heute sowohl Betätigungsraum für Gruppen als auch Sorgenkind vieler Kirchengemeinderäte. Burkowskis Analyse: Man sollte den Nutzen der Gemeindehäuser prüfen und mit Alternativen abwägen. Die Lösungen von gestern mögen für ihren gesellschaftlichen Kontext bahnbrechend gewesen sein, sie weisen uns aber nicht automatisch den Weg in die Zukunft hin. Er betonte: „Unsere (aktuelle) soziale Form ist nicht das Evangelium.“

Dem Vortrag folgte ein Workshop: Alle Teilnehmer:innen konnten miteinander diskutieren, wie Kirche neu gedacht und gestaltet werden könnte. Als Grundgerüst dienten sechs Thesen von Uta Pohl-Patalong über die Zukunft der Kirche. An Stationen konnten die Teilneher:innen ihre Ideen und Anregungen einbringen und auf Stellwänden festhalten. Es wurde unter anderem angeregt, dass kirchliche Innovationen konsequenterweise im Kirchenrecht und im kirchlichen Haushalt genauso „normal“ werden wie das Modell der parochialen Kirchengemeinde. Bezüglich der kirchlichen Berufe wurde hinterfragt, ob der obligatorische Religionsunterricht für alle Pfarrpersonen einer begabungsorientierten Personalpolitik entspräche. Und nicht zuletzt bewegte die Frage, welche Vision von Kirche notwendig ist, damit Menschen dem Evangelium von der unbedingten Liebe Gottes begegnen können.

Nicht nur wurde Zitronenkuchen gegessen: Zum Abendessen versorgte der Foodtruck alle Anwesenden mit vegetarischen Speisen. Zwischen dem Ende des Forums und der anschließenden Mitgliederversammlung konnten viele Gespräche und Begegnungen stattfinden.

– Ein Artikel von Blaise Gourget

Rassismus macht nicht vor der Kirchentüre halt

Wenn wir von Rassismus reden, reden wir oft von den anderen. Warum nicht einmal über uns selbst?

Wenn ich mir Talkshows zu den Themen Rassismus oder Identitätspolitik ansehe, erlebe ich häufig ein Schwarz-Weiß- Denken, das die Debatten aufkochen und die Menschen streiten lässt. Dabei sehe ich gerade in diesen Themen eine große Chance für uns Christ*innen, bessere Dialoge führen zu können. Gleichzeitig ist es als Kirche gefährlich, das Thema Rassismus von außen zu betrachten und uns als „die Guten“ zu betrachten. Als die, die nichts mit strukturellem Rassismus zu tun haben.

Wenn ich von Rassismus spreche, meine ich nicht den vielzitierten Rechtsextremismus und auch nicht jenen Rassismus, der Deutschland bis 1945 beherrschte. Ich meine eine rassistische Prägung, die sich seit der Aufklärung unbemerkt in uns verankert hat. Zur Zeit der Aufklärung brauchten die Menschen einen Legitimationstrick, mit dem es ok war, zum einen die Werte der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – hochzuhalten und zum anderen die Menschen kolonial auszubeuten.

Also haben Gelehrte aus Philosophie, Kirche und Wissenschaft dazu beigetragen, ein Rassenkonstrukt in die Welt zu tragen und aufrechtzuerhalten, in dem eins feststand: Ganz oben steht die „weiße Rasse“. Eine Rasse, die die Werte der Aufklärung in sich vereint. Alle anderen sind Menschen zweiter Klasse und wurden entmenschlicht.

Heute wissen wir natürlich, dass es keine biologischen Menschenrassen gibt. Und doch gibt es immer wieder Äußerungen, die auf eben diese Klassifizierung zurückführen. Zum Beispiel wenn in der Kirche davon gesprochen wird, dass unsere afrikanischen Geschwister „Rhythmus im Blut“ haben oder die Deutschen „per se pünktlich“ sind und eine „innere Uhr sie antreibt“. Oder wenn in Medien darüber spekuliert wird, warum Läufer*innen aus Kenia bei den olympischen Spielen so schnell sind und sauber finanzierte Studien dann herausfinden wollen, dass die kenianische Wade im Schnitt 15 Gramm leichter ist. Vergleichbare Studien sucht man bei weißen Schwimmweltmeister*innen vergebens, weil bei ihnen die Gründe „Fleiß und hartes Training“ ausreichen.

Diese Bilder werden auch in unserer Kirche verfestigt, weil dort People of Color durchaus im kirchlichen Kontext zu sehen sind, aber fast ausschließlich als hilfsbedürftige Protagonist*innen auftreten, beispielsweise in der Diakonie, auf Spendenplakaten, bei der Arbeit mit Geflüchteten, der Hausaufgabenhilfe, auf der Fairtrade- Schokolade …

Wir sehen sie aber kaum bis gar nicht auf der Kanzel, im Kirchengemeinderat, der Kirchenleitung, im Mitarbeiter*innenkreis oder in unterschiedlichsten Planungstreffen.

Wenn ich heute durch die Innenstadt laufe, sehe ich deutlich, dass unsere Gesellschaft zu etwa einem Viertel aus Menschen mit Migrationshintergrund besteht. Der Anteil bei den Kindern unter fünf Jahren liegt sogar bei 41 Prozent. Wenn ich Sonntag morgens in den Gottesdienst gehe, sehe ich von dieser Vielfalt nichts. Die Diskrepanz ist aber kein Zufall, denn sie hat mit den verfestigten Bildern und Vorurteilen zu tun und mit der mangelnden Aufarbeitung der eigenen kolonialen Verstrickungen in der Entstehung des Rassenkonstrukts. Ich selbst konnte mir zum Beispiel nie vorstellen, Pfarrerin zu werden, weil es für mich in der Kirche schlichtweg keine Vorbilder gab. „You can only be what you can see“ – es gibt an den entscheidenden Stellen unserer Kirche bis heute viel zu wenig People of Color.

Und wenn wir schon über Rassismus reden, reden wir nur zu oft von den anderen und betrachten uns als Kirche viel zu selten mit der notwendigen Selbstkritik. Dabei hängt unsere Zukunftsfähigkeit doch auch davon ab. Gerade in Hinblick auf schwindende Mitgliedszahlen in einer pluralen Gesellschaft muss sich Kirche selbstkritisch in den Blick nehmen und so den vielfältigen Identitäten Beachtung und Achtung entgegenbringen.

In der Bibel sehen wir, wie Gott selbst sich von Anfang bis Ende an der Seite der Unterdrückten sieht: Gott rettet durch den Exodus, Jesus lebt und predigt, wo er sich und Gott in der Welt sieht. Und Paulus warnt vor Spaltung und ruft zur Liebe untereinander auf, in einer Kirche, die schon damals nicht mono-kulturell gedacht war. Außerdem sehen wir uns als Christ*innen als Leib Christi.

Dieses Bild des Leibes kann uns helfen, uns von latentem Schwarz-Weiß-Denken zu lösen und versteckte Rassismen gemeinsam zu überwinden.

Es mag wehtun, Rassismus bei sich selbst zu erkennen. Es mag schwer sein, die Dinge anders zu betrachten als wir es gewohnt sind. Doch so können wir gemeinsam Verantwortung übernehmen,

uns verändern und die nachfolgenden Generationen prägen und zu einer gemeinschaftlichen Kirche werden, von der bereits Paulus, Martin Luther King und viele andere geträumt haben.

Sarah Vecera
Theologin, Aktivistin, Mama Autorin „Wie ist Jesus weiß geworden?“

Ausgrenzung und Umarmung

Die Realität im einundzwanzigsten Jahrhundert beunruhigt. Die einfache Tatsache, in irgendeiner Weise anders zu sein, wird als etwas Böses definiert. Warum macht uns das Fremde zu schaffen und wie können wir als Christ:innen glaubwürdig damit umgehen? Johannes Stahl hat seinen ehemaligen theologischen Lehrer Dr. Miroslav Volf befragt.

„Mein Auslandsstudium liegt ein Vierteljahrhundert zurück, damals in den USA begegnete mir Dr. Miroslav Volf, ein Europäer mit kroatischen Wurzeln. Volf ist inzwischen Professor in Yale und hat seine Thesen von Ausgrenzung und Umarmung, die mich in den 90ern gepackt haben, ausgereift und differenziert. Geboren aus der persönlichen Erfahrung einer tödlichen Unversöhnlichkeit in Serbien und Kosovo vertritt Volf die Ansicht, dass christliche Theologie Wege finden muss, um sich mit dem Hass auf Andere auseinanderzusetzen. Gibt es eine Hoffnung, unsere Feinde zu umarmen?

Gibt es eine Hoffnung, unsere Feinde zu umarmen?

Indem Volf auf die neutestamentliche Metapher der Erlösung als Versöhnung zurückgreift, schlägt er die Idee der Umarmung als theologische Antwort auf das Problem der Ausgrenzung vor. Er sagt: „Wir stellen zunehmend fest, dass die Ausgrenzung zur Hauptsünde geworden ist, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Angesichts dessen müssen Christen lernen, dass das Heil nicht nur dann kommt, wenn wir mit Gott versöhnt sind und nicht nur dann, wenn wir lernen, miteinander zu leben. Gottes Heil kommt, wenn wir den gefährlichen und kostspieligen Schritt tun, uns dem anderen zu öffnen, sie oder ihn in die gleiche Umarmung einzuschließen, mit der wir von Gott umarmt wurden.“

Identitätszentrierte Konflikte innerhalb und zwischen den Nationen waren lediglich Strömungen im großen Strom der globalen Integrationsprozesse und der Ausbreitung der globalen Monokultur – so dachten wir am Ende des letzten Jahrtausends. Aber die Welt ist nicht mehr geeint, und der Widerstand gegen die Globalisierung kommt nicht mehr nur von Randgruppen und kleineren Nationen. Aber auch, weil die Globalisierungsprozesse eine Spur des Leids und der Orientierungslosigkeit hinterlassen haben, die sich am deutlichsten in den außerordentlichen Diskrepanzen von Reichtum und Macht zwischen und innerhalb der Nationen der Welt, der fortschreitenden ökologischen Zerstörung und dem Verlust des Gefühls kultureller, religiöser und nationaler Identität und Kontrolle zeigt.

Ihr Motto lautet: „Europa wird entweder christlich sein oder es wird aufhören zu sein“

Nationale, ethnisch-kulturelle, religiöse, rassische, geschlechtliche und sexuelle Identitäten sind heue wesentliche Triebkräfte der Politik. Bei der Wahlkampagne „Make America Great Again!“, die Donald Trump ins Weiße Haus brachte, ging es vor allem um Identität, um die Wahl zwischen einem weißen, „jüdisch-christlichen“, nationalistischen Amerika und einem pluralistischen Amerika, in dem Gruppen mit unterschiedlichen, dominanten Identitäten unter einem Dach zusammenleben. Bei den extremen Rechten geht es um Identität.

Religionen haben immer auch ein Identitätsanliegen, aber sie werden oft mit anderen Identitäten und Interessen verbunden. Zwei Varianten des Christentums, der Katholizismus und die Orthodoxie, waren zusammen mit dem Islam der Grund für den Krieg zwischen ethnischen Gruppen im ehemaligen Jugoslawien, als Volf sein Buch „Ausgrenzung und Umarmung“ schrieb. In identitätszentrierten Kämpfen fungieren Religionen in der Regel als Marker für Gruppenidentitäten und als Werkzeuge im Dienst politischer Kräfte, die als Hüter dieser Identitäten auftreten. Sie verlagern den Konflikt in den Bereich des Sakralen und erhöhen seine Brisanz.

Die Praxis der Umarmung ist eine Dimension des wahren Lebens, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ermöglicht wurde.

Das ist schlecht für die Welt und für die Religionen selbst. In ihren Ursprüngen und in ihren besten historischen Ausprägungen sind alle Weltreligionen universelle Religionen, die jeden Menschen als menschliches Wesen ansprechen.

In der europäischen Neuen Rechten – „génération identitaire“ in Frankreich, „identitäre Bewegung“ in Deutschland und Österreich, „generation identity“ in Großbritannien – sieht Volf die einflussreichste politische Identitätsbewegung im Westen. Sie ist auch philosophisch eine der Anspruchsvollsten. Die Vertreter der europäischen Neuen Rechten lehnen nicht nur die angebliche Dekadenz und Leere der westlichen Kultur ab, sondern auch den Kapitalismus und das Primat der instrumentellen Vernunft, von denen man annimmt, dass sie dieser Dekadenz und Leere zugrunde liegen. Doch der Hauptfeind dieser Identitären sind die kosmopolitischen, multikulturellen und liberalen Globalisten. Sie sind es, die Europas Tore weit geöffnet haben für das, was der französische Schriftsteller und Polemiker Camus Renaud „Gegenkolonisation“, „die große Dekulturation“ oder „die große Ablösung“ nennt. Drei Begriffe für die Vorstellung, dass Menschen aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Subsahara-Afrika, die meisten von ihnen Muslime und alle nicht weiß, allmählich die weiße Mehrheit Europas, die Träger der christlich geprägten Zivilisation, ersetzen.

Die meisten europäischen Identitären sind Christen, oft junge, konservative Katholiken; selbst die Atheisten unter ihnen bestehen auf dem christlichen Charakter des säkularen Westens. Ihr Motto lautet: „Europa wird entweder christlich sein oder es wird aufhören zu sein“. Wenn es jedoch um den Inhalt ihrer gesellschaftlichen Vision geht, ist der christliche Glaube, den die europäischen Identitären ebenso wie ihre Pendants in Amerika und Russland für sich beanspruchen, zu einem sakralisierten Identitätsmerkmal und einem Werkzeug in politischen Kämpfen ausgehöhlt worden.

Die Identität eines Menschen als „Ebenbild Gottes“ und „Kind Gottes“ wird bei Caroline Sommerfeld, einer führenden Philosophin der Neuen Rechten, in andere Identitäten eingepasst und nicht umgekehrt. Wir sind in erster Linie Mitglieder unserer ursprünglichen Gemeinschaft – Heimat, geografische Region usw. – und erst in zweiter Linie Mitglieder der vielfältigen menschlichen Gemeinschaft oder der Kirche, dem einen Volk Gottes, das viele Sprachen spricht. „Zuerst kommt der Schoß der Mutter, das Haus des Vaters, das Dorf, die Gegend, das Land, der Nationalstaat, zuletzt die Menschheit“, schreibt Caroline Sommerfeld.

In „Ausgrenzung und Umarmung“ geht es Volf um Identität, aber er ist nicht identitär.

… dass die Feindesliebe, die in Gottes Umarmung der sündigen Menschheit in Christus zum Ausdruck kommt, für den christlichen Glauben und das Leben in der Welt von grundlegender Bedeutung ist.

Für Volf ist die Praxis der Umarmung und die Theologie, die sie untermauert, eine Dimension des wahren Lebens, eine Art von Leben, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ermöglicht wurde. Das Bekenntnis zu Christus als dem wahren Leben steht im Gegensatz zu der Vernachlässigung dessen, was in den hyperindividualistischen, marktorientierten Gesellschaften der Gegenwart am wichtigsten ist.
Volf hält fest: „Gottes unveränderliche und bedingungslos liebende Beziehung zu allen Menschen (Johannes 3,16) begründet deren gemeinsames Menschsein und Gleichheit. Der eine dreieinige Gott ist der Gott aller Menschen, von denen jeder ein einzigartiges und dynamisches Geschöpf einer bestimmten Zeit, einem Ort und einer Kultur ist.

In „Ausgrenzung und Umarmung“ geht Volf von einer solchen Darstellung des Charakters und der Herkunft der gemeinsamen Menschheit aus. Der Strang über identitätszentrierte Konflikte beruht auf der Überzeugung, dass die Feindesliebe, die in Gottes Umarmung der sündigen Menschheit in Christus zum Ausdruck kommt, für den christlichen Glauben und das Leben in der Welt von grundlegender Bedeutung ist: Die Unbedingtheit der göttlichen Liebe erfordert und ermöglicht die entsprechende Unbedingtheit der menschlichen Liebe.

Die Hauptthese von Volf ist folgerichtig: Der Wille, uns anderen hinzugeben und sie „willkommen“ zu heißen, geht jedem Urteil über andere voraus.

Miroslav Volf ist gebürtiger Kroate und Professor für Systematische Theologie an der Divinity School der Yale Universität in New Haven, Connecticut. Sein Werk „Exclusion & Embrace“ gilt „Christianity Today“ als eines der 100 besten religiösen Bücher des 20. Jahrhunderts und wurde 2002 mit dem Louisville Grawemeyer Award in Religion ausgezeichnet.

Nach Corona: Weiter so? Oder hoffentlich nicht…

Was hat Kirche aus Corona gelernt? Nach der Schockstarre reibt mancher sich die Augen und möchte so schnell wie möglich wieder zurück ins normale Kirchenleben. Aber was ist für Kirche eigentlich „normal“? Das haben wir Dr. Klaus Douglass gefragt und er macht Mut zu neuen Wegen.

Ich unterhielt mich dieser Tage mit einer jungen Pfarrerin, deren Gemeinde in der Coronakrise eine erstaunliche Entwicklung genommen hatte. Der Gottesdienstbesuch ihrer Gemeinde hatte sich trotz pandemiebedingter Einschränkungen fast verdreifacht. Die vormals recht kleine Schar der gemeindlich Aktiven hatte sich geöffnet und in der Krise mit verschiedenen Akteur*innen des Ortes kooperiert, um Masken zu nähen, Hilfsbedürftige zu unterstützen und gemeinsame Projekte zu stemmen. Ganz allgemein waren das Wir-Gefühl und der Zusammenhalt nicht nur innerhalb der Gemeinde, sondern auch innerhalb des Ortes deutlich gewachsen. Natürlich war Corona auch dort eine schlimme Zeit gewesen. Aber irgendwie hatte die Krise die Menschen dazu gebracht, zur richtigen Zeit die richtigen Dinge zu tun bzw. sich auf das zu konzentrieren, was im Endeffekt wirklich zählt: nämlich die Weitergabe von Glaube, Liebe und Hoffnung.

Endlich wieder Gottesdienste wie früher!?

Allerdings, so erzählte die junge Kollegin, waren im Frühsommer, als die Impfkampagne endlich zu greifen begann, gleich mehrere der früheren Gottesdienstbesucher*innen zu ihr gekommen und hatten gesagt: „Gott sei Dank, Frau Pfarrerin, jetzt können wir endlich wieder Gottesdienste und Veranstaltungen wie früher machen!“ Mit diesen Worten, so ergänzte sie, war die klare Erwartung verbunden, dass man endlich mit den ganzen Neuerungen aufhören und wieder zur guten alten Normalität zurückkehren solle.

Was uns zu der Frage bringt: Was ist für uns als Kirche eigentlich „normal“? Viele beantworten diese Frage aus der Vergangenheit heraus: Normal ist, was allgemein üblich ist. In diesem Sinne waren liturgische Gottesdienste mit einem Besuch von nicht einmal zwei Prozent der eigenen Mitglieder (von Nichtmitgliedern ganz zu schweigen) bis vor Kurzem „normal“. Oder Gemeinden, die sich stark nach außen hin abschotten, um eine Binnenkultur zu pflegen, die für Außenstehende weder leicht zugänglich noch inhaltlich nachvollziehbar ist. Das Problem mit diesem – vornehmlich an der vorhandenen kirchlichen Praxis orientierten – Normalitätsbegriff ist, dass das, was kirchliche Insider als „normal“ ansehen, für Außenstehende oft das genaue Gegenteil ist. Es ist für sie „unnormal“, weil es ihrem Lebensgefühl und ihrer Lebenswirklichkeit nicht nur nicht entspricht, sondern oft sogar widerspricht.

Was ist der Auftrag?

Vielleicht würde es helfen, wenn wir als Kirche den Begriff der Normalität nicht an dem festmachten, was allgemein üblich, sondern an dem, was uns aufgetragen und verheißen ist. Der Auftrag der christlichen Gemeinde wird in Matthäus 28,18-20 definiert: Geht hin zu den Menschen, gewinnt sie dafür, Jesus Christus nachzufolgen, integriert sie in eure Gemeinschaft und helft ihnen, sich im Wort der Heiligen Schrift zu verwurzeln. – Dass das geschieht, darf allein der Maßstab kirchlicher Normalität sein. Und umgekehrt: Wo das nicht geschieht, ist das eben nicht „normal“, selbst wenn wir da- bei auf eine noch so lange Tradition zurückblicken können und wenn dabei noch so viele fromme Worte gemacht werden.

Was die junge Kollegin in ihrer Gemeinde gemacht hat, war in diesem auftrags- und verheißungsorientierten Sinne „normal“. Als die herkömmlichen Gottesdienste coronabedingt nicht mehr durchgeführt werden konnten, wich sie auf andere Formate aus: Gottesdienste im Freien, Hausgottesdienste und Gottesdienste im Netz, wobei sie nicht einfach die klassischen Formate ins Internet streamte, sondern einfache Formate mit vielen Möglichkeiten zu Beteiligung entwickelte. Allesamt sehr persönliche, kommunikative und auf Be- ziehung ausgerichtete Formate.

Persönlich, kommunikativ, auf Beziehung aus

Ich glaube, dass solche Elemente der Beteiligung und des Zusammenwirkens unumkehrbar zur Zukunft nicht nur des Gottesdienstes, sondern unserer Kirche überhaupt gehören: Kirche in den unterschiedlichsten Netzwerken unserer Gesellschaft, Kirche im Sozialraum, Kirche in ökumenischer Weite und Kirche in globaler Verbundenheit: Wo immer Gemeinden sich in den Monaten der Pandemie auf einen derartigen Weg gemacht haben, haben sie inmitten der Krise einen guten Schritt nach vorne gemacht. Und es wäre jammerschade, wenn sie der Versuchung erlägen, nach Abklingen der Pandemie wieder zur alten „Normalität“ zurückzukehren. „Normal“ im auftrags- und verheißungsorientierten Sinn ist, was Menschen mit dem Evangelium in Berührung bringt, was ihnen hilft, sich darin zu verwurzeln und was sie dazu bringt, selbst Glaube, Liebe und Hoffnung weiterzugeben.

Wenn das mit den alten Mitteln und Formen besser gelang als mit den neuen, sollten wir zu diesen zurückkehren. Wenn die neu gefundenen Formen und Mittel allerdings hilfreicher sein sollten, sollten wir uns getrost von den alten verabschieden und auf jenem Weg weitergehen, den Gott uns in den letzten anderthalb Jahren geführt hat.

Dr. Klaus Douglass, Pfarrer und Direktor der evangelischen Zukunftswerkstatt midi in Berlin

Kloster Hirsau: Neue Wege in alten Mauern

Tradition und Innovation: ein Gegensatz? Sebastian Steinbach gebeten, die beiden Begriffe aufgrund seiner praktischen Erfahrung zu reflektieren. Seine spannenden Einblicke in „neue Wege in alten Mauern“ machen Mut, diese Spannung auch anderswo aufzunehmen und alte Kirche neu zu (er)leben.

Innovation und Tradition brauchen einander. Ich spüre das hier in unserem alten Kloster Hirsau. Denn Innovation geschieht ja nie im luftleeren Raum, Innovation ist nie etwas vollständig Neues. Vielmehr verknüpft Innovation bereits Bestehendes, „Traditionelles“ auf kreative, neuartige Weise.

Unsere kirchliche Tradition hält eine Unzahl an alten Schätzen bereit: jahrhundertealte, faszinierende, durchbetete Kirchen, „mystische Orte“. Jahrhundertealte, kraftvolle Symbole. Jahrhundertealte, herzanrührende Texte. Jahrhundertealte, lebens- und glaubensformende geistliche Übungen. Jahrtausendealte, lebensverändernde biblische Schriften. Dazu eine knapp zweitausendjährige Kirchengeschichte, in der Kirche schon eine Menge entwickelt, ausprobiert und angestellt hat, aus dem wir lernen können.

Jahrhundertalte Mauern

Hier in Hirsau haben wir jahrhundertealte Mauern und eine bewegte Kloster-Geschichte, die allerdings mit der Reformation endet. Mehr als fünfhundert Jahre lang haben Mönche hier Tag und Nacht gebetet. Vor knapp eintausend Jahren hat von hier die sogenannte „cluniazensische Reform“ – eine der großen geistlichen Klosterreformen – in den gesamten deutschsprachigen Raum ausgestrahlt. Menschen spüren, dass dies ein „heiliger Ort“ ist.

Zugleich erzeugen diese Tradition und Geschichte bei vielen Menschen, die das Kloster Hirsau besuchen, einfach „nur“ eine Art diffuses heiliges Gefühl. Sie bringen sie nicht in Verbindung mit ihrem Leben und ihrem Alltag – die klösterlichen Gelübde wie Armut, Keuschheit und Gehorsam. Das ständige Gebet. Die tiefe Gottessuche der Mönche.

Die reine Tradition reicht nicht

Unsere Welt verändert sich seit Jahrzehnten mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit. Raketenschnell entfernt sich unsere jeweils aktuelle Lebenswirklichkeit von der Lebenswirklichkeit früherer Jahrhunderte. Genau aus diesem Grund brauchen wir Innovation! Innovation ist das notwendige Bindeglied zwischen unseren kirchlichen Traditionen, unseren alten Schätzen und unserer aktuellen, sich rasant entwickelnden Wirklichkeit.

Hier eine kurze und unvollständige Liste, was es meiner Erfahrung nach für die Entwicklung von Innovation braucht: Mitarbeiter, die offen für Neues sind. Neugier. Experimentierfreude und Risikobereitschaft. Freiräume für Kreativität, zeitlich und örtlich. Geld. Flexible Strukturen. Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Und Inspiration. Zum einen von „Profis“: von Menschen, die von außen kommen und sich mit Innovation auskennen. Zum anderen und vor allem:  von Gott selbst.

Tradition übersetzen, Innovation entwickeln

Und so entwickeln wir hier in Hirsau seit vielen Jahren Angebote, in denen wir versuchen, die Tradition und Geschichte dieses Ortes erlebbar zu machen und in unsere heutige Lebenswelt zu übersetzen. Wir schaffen Erlebnisräume wie geistliche Führungen, kreative Gebetsstationen, moderne Tagzeitengebete und Ausstellungen, in denen Menschen dem „Gott dieses Ortes“ – also unserem guten, dreieinigen Gott – begegnen können. Erlebnisräume, in denen sie klösterliche Prinzipien wie Einfachheit, Rückzug und Stille entdecken und ausprobieren können. Dazu lassen wir die Mauern dieses alten Ortes ins Digitale wachsen. Wir experimentieren mit Formen von digitaler Spiritualität, weil wir uns wünschen, dass Menschen auch zuhause weiter mit den Impulsen umgehen, denen sie hier an diesem Ort begegnet sind.

Orte der Gottesbegegnung

Seit September findet sich all das auf unserer wunderschönen Website www.amen-atmen.de Ab nächstem Jahr soll es mit www.lebensliturgien.de  eine eigene Website (oder Webapp) mit Tagzeitengebeten zum Hören für jeden Tag geben (jetzt schon als Podcast: „Lebens Liturgien“), dazu einen gleichnamigen Instagram-Kanal. Auf diesem Kanal werden kleine „Häppchen“ der je aktuellen Tagzeitengebete erscheinen, dazu Zitate, Informationen und Gedanken zu den Themen Gebet, Tages-Rhythmus, Stille und Fokus.

Unsere Hoffnung und unser Gebet ist, dass das alte Kloster Hirsau auf diese Weise wieder neu zu einem Ort der Gottesbegegnung und des Gebets wird. Zu einem Ort, an dem Menschen der Schönheit und Faszination Gottes und des Gebets neu und tiefer begegnen.

– Sebastian Steinbach, Pfarrer in Hirsau, ist fasziniert davon, welch tiefe Erfahrungen Menschen an diesem alten Klosterort machen und was digital an Spiritualität möglich ist.