Kloster Hirsau: Neue Wege in alten Mauern

Tradition und Innovation: ein Gegensatz? Sebastian Steinbach gebeten, die beiden Begriffe aufgrund seiner praktischen Erfahrung zu reflektieren. Seine spannenden Einblicke in „neue Wege in alten Mauern“ machen Mut, diese Spannung auch anderswo aufzunehmen und alte Kirche neu zu (er)leben.

Innovation und Tradition brauchen einander. Ich spüre das hier in unserem alten Kloster Hirsau. Denn Innovation geschieht ja nie im luftleeren Raum, Innovation ist nie etwas vollständig Neues. Vielmehr verknüpft Innovation bereits Bestehendes, „Traditionelles“ auf kreative, neuartige Weise.

Unsere kirchliche Tradition hält eine Unzahl an alten Schätzen bereit: jahrhundertealte, faszinierende, durchbetete Kirchen, „mystische Orte“. Jahrhundertealte, kraftvolle Symbole. Jahrhundertealte, herzanrührende Texte. Jahrhundertealte, lebens- und glaubensformende geistliche Übungen. Jahrtausendealte, lebensverändernde biblische Schriften. Dazu eine knapp zweitausendjährige Kirchengeschichte, in der Kirche schon eine Menge entwickelt, ausprobiert und angestellt hat, aus dem wir lernen können.

Jahrhundertalte Mauern

Hier in Hirsau haben wir jahrhundertealte Mauern und eine bewegte Kloster-Geschichte, die allerdings mit der Reformation endet. Mehr als fünfhundert Jahre lang haben Mönche hier Tag und Nacht gebetet. Vor knapp eintausend Jahren hat von hier die sogenannte „cluniazensische Reform“ – eine der großen geistlichen Klosterreformen – in den gesamten deutschsprachigen Raum ausgestrahlt. Menschen spüren, dass dies ein „heiliger Ort“ ist.

Zugleich erzeugen diese Tradition und Geschichte bei vielen Menschen, die das Kloster Hirsau besuchen, einfach „nur“ eine Art diffuses heiliges Gefühl. Sie bringen sie nicht in Verbindung mit ihrem Leben und ihrem Alltag – die klösterlichen Gelübde wie Armut, Keuschheit und Gehorsam. Das ständige Gebet. Die tiefe Gottessuche der Mönche.

Die reine Tradition reicht nicht

Unsere Welt verändert sich seit Jahrzehnten mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit. Raketenschnell entfernt sich unsere jeweils aktuelle Lebenswirklichkeit von der Lebenswirklichkeit früherer Jahrhunderte. Genau aus diesem Grund brauchen wir Innovation! Innovation ist das notwendige Bindeglied zwischen unseren kirchlichen Traditionen, unseren alten Schätzen und unserer aktuellen, sich rasant entwickelnden Wirklichkeit.

Hier eine kurze und unvollständige Liste, was es meiner Erfahrung nach für die Entwicklung von Innovation braucht: Mitarbeiter, die offen für Neues sind. Neugier. Experimentierfreude und Risikobereitschaft. Freiräume für Kreativität, zeitlich und örtlich. Geld. Flexible Strukturen. Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Und Inspiration. Zum einen von „Profis“: von Menschen, die von außen kommen und sich mit Innovation auskennen. Zum anderen und vor allem:  von Gott selbst.

Tradition übersetzen, Innovation entwickeln

Und so entwickeln wir hier in Hirsau seit vielen Jahren Angebote, in denen wir versuchen, die Tradition und Geschichte dieses Ortes erlebbar zu machen und in unsere heutige Lebenswelt zu übersetzen. Wir schaffen Erlebnisräume wie geistliche Führungen, kreative Gebetsstationen, moderne Tagzeitengebete und Ausstellungen, in denen Menschen dem „Gott dieses Ortes“ – also unserem guten, dreieinigen Gott – begegnen können. Erlebnisräume, in denen sie klösterliche Prinzipien wie Einfachheit, Rückzug und Stille entdecken und ausprobieren können. Dazu lassen wir die Mauern dieses alten Ortes ins Digitale wachsen. Wir experimentieren mit Formen von digitaler Spiritualität, weil wir uns wünschen, dass Menschen auch zuhause weiter mit den Impulsen umgehen, denen sie hier an diesem Ort begegnet sind.

Orte der Gottesbegegnung

Seit September findet sich all das auf unserer wunderschönen Website www.amen-atmen.de Ab nächstem Jahr soll es mit www.lebensliturgien.de  eine eigene Website (oder Webapp) mit Tagzeitengebeten zum Hören für jeden Tag geben (jetzt schon als Podcast: „Lebens Liturgien“), dazu einen gleichnamigen Instagram-Kanal. Auf diesem Kanal werden kleine „Häppchen“ der je aktuellen Tagzeitengebete erscheinen, dazu Zitate, Informationen und Gedanken zu den Themen Gebet, Tages-Rhythmus, Stille und Fokus.

Unsere Hoffnung und unser Gebet ist, dass das alte Kloster Hirsau auf diese Weise wieder neu zu einem Ort der Gottesbegegnung und des Gebets wird. Zu einem Ort, an dem Menschen der Schönheit und Faszination Gottes und des Gebets neu und tiefer begegnen.

– Sebastian Steinbach, Pfarrer in Hirsau, ist fasziniert davon, welch tiefe Erfahrungen Menschen an diesem alten Klosterort machen und was digital an Spiritualität möglich ist.